- Lernen: Theorien — Verhalten — Störungen
- Lernen: Theorien — Verhalten — StörungenLernen, sprich das Verhalten aufgrund von individuellen Erfahrungen ändern, können alle höheren Tiere. Doch nur Menschen und mit Einschränkungen die Menschenaffen lernen nach einer umfassenderen Definition: Sie können sich Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen sowie Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen aufgrund von Einsicht oder Erfahrung ändern. Die vielfältigen Arten zu lernen und die Faktoren, die das Lernen beim Menschen beeinflussen, untersucht die Lernpsychologie, die im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Teildisziplinen der Psychologie wurde. Anstoß für diese Entwicklung war die Entdeckung der neurologischen Grundlagen des Lernens und die zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten. Jedoch soll schon Aristoteles Lerngesetze formuliert haben. Er erklärte das Lernen als eine Frucht von Gedankenassoziationen im menschlichen Geist.Dem breiten Interesse an der Lernpsychologie entsprechend, ist die Zahl der Theorien, die versuchen Lernvorgänge zu erklären, sehr umfangreich. Deutlich herausgehoben sind fünf Gruppen von Lerntheorien. Am Beginn des Jahrhunderts entstand zunächst die später als »klassische Konditionierung« bekannt gewordene Theorie von Iwan Pawlow. Darauf aufbauend kamen die Theorien der »operanten Konditionierung« von Burrhus Frederic Skinner und des »Imitationslernens« von Albert Bandura hinzu. Nur wenig später als Pawlow formulierte Wolfgang Köhler seine Theorie der »kognitiven Konditionierung«. Schließlich wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die »Formale Lerntheorie« entwickelt.Die klassische und die operante KonditionierungDer Sankt Petersburger Physiologe Iwan Pawlow erhielt 1904 den Nobelpreis für seine Untersuchungen des Speichelflussreflexes beim Hund. Er stellte fest, dass der Speichel bei den Versuchshunden bereits floss, wenn ein Klingelzeichen das Nahen des fütternden Wärters ankündigte. Für Pawlow war dieser vorzeitige Speichelfluss ein »gelernter« Reflex. Er nannte ihn bedingter Reflex, weil er nur unter bestimmten Bedingungen zustande kommt. Um diese genauen Bedingungen kennen zu lernen, konstruierte er den später nach ihm benannten pawlowschen Käfig.Die theoretische Grundlage liefert die von René Descartes eingeführte Reflexlehre. Der Reflex ist danach der fundamentalste Nervenprozess im Nervensystem. Alle weiteren Abläufe zwischen den Nervenzellen unterscheiden sich von ihm lediglich durch eine größere Zahl beteiligter Zellen sowie stärkere Verzweigungen und Vernetzungen dieser Zellen. Die Reflexbogen genannte Verschaltung besteht aus dem Rezeptor, dem zuführenden (afferenten) Nerv, einer zentralen Verarbeitungsstelle (Umschaltung) und dem abführenden (efferenten) Nerv. Der bekannteste Reflexbogen ist der Patellarsehnenreflex, der durch einen Schlag auf das Kniegelenk ausgelöst wird.Bei zwei parallelen Reflexen entsteht im Zentralbereich eine Irradiation, das heißt, elektrische Nervenimpulse können auf einen anderen Reflexbogen überspringen. Dieser Übersprung wird »zeitweilige Verbindung« genannt. Lässt man den ursprünglichen Reiz (zum Beispiel das Futter bei Pawlows Hunden) weg, kann der zweite Reiz (hier das Klingelzeichen) über die zeitweilige zentrale Verbindung den ursprünglichen Effekt »Speichelfluss« erzeugen. Dieser neue Verbindungsweg ist ein bedingter Reflex im Sinne Pawlows. Er gilt als Grundmodell aller Lernprozesse. Durch die Anbindung von Neuem an den vorherigen Lernbesitz wird nach dieser Theorie prinzipiell gelernt. Beispielsweise kann ein bedingter Reflex mit dem Wort »Platz« gekoppelt sein und mit einer vorher »unbedingt« eingeübten Sitzhaltung, etwa über Futtergaben oder Lob verbunden werden.Mit der reflexologischen Theorie von Pawlow lassen sich zwei Lerngesetze gut erklären: die »Einschleifung des Gelernten« sowie seine »Generalisierung und Diskriminierung«. Je häufiger der bedingte Reiz (Klingelzeichen) vor dem unbedingten Reiz (Futter) dargeboten wird, desto fester »sitzt« die Verbindung und umso leichter lässt sich mit dem Klingelzeichen schon vor dem Futter und auch ohne Futtergabe der Speichelfluss als Effekt auslösen. Die Lerngesetze der zunehmenden Genauigkeit des Gelernten (Diskriminierung) und die zunehmende Vergleichbarkeit mit ähnlichen Ergebnissen (Generalisierung) lassen sich physiologisch durch die sich ausbreitenden Erregungsherde erklären, die miteinander gekoppelt sind. Wie schon Pawlow erkannte, »breiten sich die Erregungs- und Hemmungsprozesse, die in den Großhirnhemisphären entstehen, zunächst in ihnen aus, das heißt sie irradiieren, und können sich dann, indem sie sich am Ausgangspunkt sammeln, konzentrieren. Das ist eines der Grundgesetze des gesamten Zentralnervensystems«. Die Ausbreitung der Erregung wäre das physiologische Äquivalent der Generalisierung, die Rückentwicklung der Ausbreitung (gleichbedeutend mit der Ausbreitung eines Hemmungsprozesses) entspräche der Diskriminierung.Der amerikanische Psychologe Burrhus F. Skinner entwickelte ab 1938 die Lerntheorie von Pawlow weiter. Er veränderte sie, indem er sich statt auf die Physiologie auf die Lernpsychologie Edward Thorndikes und sein »Gesetz des Erfolges« stützte: »Eine Handlung wird umso sicherer wiederholt, je befriedigender der sie begleitende Gesamtzustand ist.« Laut der instrumentellen oder operanten Konditionierung ist der auslösende unbedingte Reiz nicht immer sofort und eindeutig erkennbar. Stattdessen wird der Verstärkung des Reizes größere Aufmerksamkeit geschenkt. Skinner definiert die Verstärkung als Konsequenz eines Verhaltens, die dessen Auftretenswahrscheinlichkeit erhöht, das heißt, die Versuchsperson folgt einer durch die Stimuli beeinflussten Richtung des operanten Lernens. Ein positiver (sympathischer) Stimulus durch Aufmunterung, Lob, Zustimmung oder Beifall als positive Verstärkung oder Konditionierung führt demnach zu einer erhöhten oder gleich bleibenden Reaktions- oder Auftretensrate. Ein negativer (unsympathischer) Stimulus durch Warnung, Missbilligung, Verbot oder Strafe als direkte Abschwächung führt dagegen zu einer abgesenkten Reaktionsrate durch Vermeidungsverhalten. Umgekehrt führt die Entfernung oder der Entzug eines positiven Stimulus zu einer Löschung beziehungsweise keiner erkennbaren Verbesserung der Reaktionsrate, der Fortfall der Bestrafung oder die negative Verstärkung dagegen zu einer gesteigerten (Wieder-)Auftretensrate desselben Verhaltens. Einfacher ausgedrückt: Positives lohnt sich und wird beibehalten, Negatives lohnt sich nicht und wird vermieden.Lernen durch Imitation, Beobachten und NachdenkenDie Bezeichnung Imitationslernen ist der Sammelbegriff für eine dritte Gruppe von Konditionierungsprozessen, die Pawlow unter den Komplexreizen abhandelte und die andere Autoren soziales Lernen, Nachahmung, identifikatorischer Prozess, Modelllernen, Epigonie oder Abbildwirkung nannten. Der amerikanische Psychologe Albert Bandura unterscheidet drei Formen von Imitation, mit der sich der Mensch in seine Umwelt einfügen kann: Er beobachtet und ahmt Modelle nach, symbolisiert Vorbilder und wendet sie schöpferisch abgewandelt an, oder er steuert sein Verhalten in umgekehrte Richtung zu einem Gegenmuster (abgelehntes Muster). So kann man sich eine ungewünschte Verhaltensweise manchmal am besten durch Annehmen der entgegengesetzten Verhaltensweise abgewöhnen. Grundgedanke dieser Theoriengruppe ist, dass das Verhalten nicht nur in allen Einzelheiten konditioniert, sondern in einer Art vorgefertigtem Zustand von anderen übernommen werden kann. Beispielsweise können ältere Mädchen ein Vorbild beim Ballettunterricht für ein jüngeres Mädchen sein, das zunächst nur die Motivation und erst später die Tätigkeit selbst übernimmt.Während des Ersten Weltkriegs war der deutsche Psychologe Wolfgang Köhler auf Teneriffa interniert. Im Laufe seiner vierjährigen Gefangenschaft führte er »Intelligenzprüfungen an Menschenaffen« durch. Beispielsweise befestigte er im Versuchskäfig Bananen so hoch, dass die Tiere sie nur mit einem Hilfsmittel erreichen konnten: entweder durch die Benutzung von Kisten, die sie übereinander aufschichteten oder mit Stangen, die sie ineinander stecken mussten. Die Affen lernten durch Probieren mit mehr oder weniger Intelligenz, die Hilfsmittel zur Erlangung der Bananen zu nutzen.Menschen lernen viel häufiger dadurch, dass sie beobachten, zusehen, zuhören oder anfassen und die so aufgenommenen Informationen durch Nachdenken verarbeiten und schließlich Lösungen finden. Karl Bühler nannte die Lösung ein »Aha-Erlebnis«, auf das wir im Zusammenhang mit den Problemlösungen noch genauer zurückkommen werden. Diese Form des Lernens hat bereits der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel beschrieben: »Lernen heißt nicht nur, mit dem Gedächtnis die Worte auswendig lernen — die Gedanken anderer können nur durch das Denken aufgefasst werden, und dieses Nachdenken ist auch Lernen.«Formale LerntheorienMit Beginn der Computerentwicklung vor wenigen Jahrzehnten entstanden Modelle für mit dem Computer bearbeitbare Lernvorhersagen unter dem Sammeltitel formale Lerntheorien. Sie beziehen sich alle auf Veränderungen der Wahrscheinlichkeit, mit der ein Lernerfolg eintritt oder nicht. Dieser »probabilistische« Ansatz sieht im Lernen einen Prozess unabhängiger Einzelschritte. Jeder Schritt besteht aus der Darbietung eines Reizes, auf den die Versuchsperson durch Auswahl aus zwei oder mehreren möglichen Reaktionen unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit reagiert. Die Reaktion führt zu einem Erfolg oder Misserfolg und damit zu einer veränderten Wahrscheinlichkeit der zukünftigen Verhaltensalternativen. Zum Aufbau der formalen Lerntheorien mussten mathematische Modelle für Lernfortschritte entwickelt werden, die trotz strenger Abstrahierung den tatsächlichen Ergebnissen von Lernschritten entsprechen sollten. Für das Lernziel »besser Lesen« beispielsweise musste ein praktisch handhabbares Maß gefunden werden. Dazu bestimmte man unter anderem die Zahl der Augenrucke beim Lesen einer Zeile. Wer gut lesen kann, benötigt weniger Augenrucke, um mehrere Worte gleichzeitig zu erkennen.Die mathematisierten Lerntheorien leiten aus wenigen Annahmen formale Prinzipien ab, um den Lernprozess technisch nachzuahmen. Dafür verwendet man zurzeit hauptsächlich zwei Modelle, die Operator- und die Stadienmodelle. Die Operatormodelle beziehen ihren Namen aus der (operativen) Übergangsregel zwischen zwei Wahrscheinlichkeiten möglicher Antworten. Die Stadienmodelle unterscheiden sich von ihnen durch die Endlichkeit der angenommenen Zustände (daher heißen sie auch »endliche Zustandsmodelle«). Sie werden nach der Zahl der Elemente oder Reizkomponenten und der Auswahl der Stichproben klassifiziert. Beide Modelle haben das gemeinsame Ziel, eine angemessene mathematisierte Form der Lernschritte zu erstellen, aus der sich exakte quantitative Vorhersagen der Beobachtungsgrößen bei Lernprozessen ableiten lassen. Vergleichbar ist dieses Vorgehen mit der Konstruktion von Schachcomputern, die vorläufig noch mit Milliarden von Ausleseschritten die Zugweise eines Schachmeisters nachahmen müssen, die dieser mit zahlreichen gelernten Abkürzungen vereinfacht. Sobald auch die Abkürzungen programmierbar sind, müssen Computer nicht mehr versuchen, den Schachmeister allein durch ihre höhere Schnelligkeit zu übertreffen.LernverhaltenLernen ist kein einheitlicher Prozess. Es gibt niederes und höheres Lernen, je nach dem methodischen Aufwand. Im Allgemeinen lassen sich die drei Stufen Zufallslernen, Akkumulationslernen (Wissensansammlung) und Konzeptlernen unterscheiden, die jedoch nicht lediglich eine Entwicklung vom einfachen zum höheren Lernen sind. Ferner gibt es Unterschiede in den Lernbereichen und Lernkategorien.Lernen durch ProbierenDas Zufallslernen als einfachstes Lernen wird auch Probieren oder Lernen durch Versuch und Irrtum genannt. Erfolglose Versuche führen meist zu unbefriedigenden oder falschen Lösungen und werden verworfen. Unter den vielen Versuchen taucht aber irgendwann einmal eine gute Lösung auf, die durch einen sichtbaren Erfolg gekrönt ist. Dieser Erfolg ist nur dann befriedigend, wenn die Kosten für das Herumprobieren nicht zu hoch sind. Das hängt allerdings auch davon ab, ob es eine oder mehrere Lösungsmöglichkeiten gibt. Ist nur ein einziges richtiges Resultat möglich, lohnt es kaum, zu lange herumzuprobieren. Im anderen Fall, bei zahlreichen Alternativen, kann der Zufall eine völlig unvorhersehbare Lösung bringen, die das Zufallslernen rechtfertigt. Der bekannteste Fall für Zufallslernen ist der Zusammenbau eines Möbelstücks aus dem Möbelmarkt, bei dem man die Gebrauchsanweisung nicht versteht oder nicht besitzt: Man probiert so lange, bis das Möbelstück stabil steht.Lernen durch WissensansammlungLernen hat meist mit vermehrten, gesteigerten oder gewachsenen Erkenntnissen beziehungsweise Erfahrungen zu tun. Zu einer Ausgangsposition kommen räumliche, zeitliche, qualitative oder quantitative Erweiterungen hinzu. Das Akkumulationslernen unterteilt sich in graduelles (kontinuierlich aufsteigendes), inkrementelles (stufenförmig potenziertes), additives (zusammensetzendes) und zielerreichendes (durch Rückkoppelung vom Endergebnis bestimmtes) Lernen. Besteht die Tendenz etwas zu lernen oder zu üben, ist zwar eine kontinuierliche Steigerung zu erwarten, aber auch flachere Anstiegskurven, Lernplateaus, können durchaus Teil des Lernprozesses sein. Um über diese Plateaus hinwegzukommen, muss oftmals die Lernmethodik geändert werden. Denn beim Wissenserwerb spielen neben der Faktenvermehrung auch qualitative Merkmale wie Präzision und Transfer, also die Genauigkeit und erweiterte Anwendung der Fakten, eine mitbestimmende Rolle. Das bekannteste Beispiel ist hier das Kreuzworträtsel. Der naive Anfänger probiert herum (Zufallslernen) und löst selten ein größeres Rätsel. Je erfahrener man ist, desto mehr Zusatzinformationen (zum Beispiel ein Rätsellexikon oder frühere Lösungen) baut man ein.Beim Akkumulationslernen erhält der Mensch lediglich ein zunehmend umfangreicheres Wissen. Er wird aber heute von Fakten überschwemmt, die ihm eine Übersicht erschweren oder eine solche sogar unmöglich machen. Nicht selten gerät er an die Grenze seiner Aufnahmefähigkeit. In der neueren amerikanischen Lernpsychologie wird die dritte Lernstufe »Lernen durch Merkmalsqualifikation« genannt. Hier geht es nicht mehr nur darum, Lerninhalte wie beim Akkumulationslernen aufzustocken, sondern eine vernetzte Sicht- beziehungsweise Handlungsweise zu gewinnen. Der Lernende wird laut den amerikanischen Psychologen Jerome Bruner und David Ausubel ein »Entdecker«, der neues Material den eigenen geistigen Ordnungen unterwirft. Wer zum Beispiel ein Buch schreiben will, braucht Inhaltsübersichten, Pläne für den Aufbau, Literaturstützen und vieles mehr, um das Buch zu entwerfen.Das KonzeptlernenBeim Sport besteht manchmal ein Weltrekord über lange Zeit, bis plötzlich, wie beim Hochsprung nach der Einführung des Fosbury-Flops, ein Schub an Rekorden einsetzt. Solche Rekordschübe gibt es auch im Geistigen, wenn neue Theorien wissenschaftliche Revolutionen auslösen, wie die Formulierung der Relativitätstheorie durch Albert Einstein. Das Konzeptlernen ist stärker als die anderen Lernstufen auf solche theoretischen oder methodischen Sprünge angewiesen. In den Lernkategorien, das heißt den Klassifikationen von Fächern und fächerübergreifenden Disziplinen nach Lernbereichen, sind die Stufen des Lernens sehr unterschiedlich ausgeprägt.Für besondere Fertigkeiten, zum Beispiel Autofahren oder Töpfern, braucht man Kenntnisse, Geschicklichkeit, richtiges Material und Ausdauer. Um diese Fertigkeiten zu lernen, sind gewisse technische Voraussetzungen, zum Beispiel angemessenes Handwerkszeug, sowie persönliche Eigenschaften, wie Körperkraft und Sinnestüchtigkeit, nötig. Weiterhin ist eine Rückmeldung der Leistung durch Erfahrung oder weiterführende Motivation und auch eine Gesamtkoordination im Zusammenspiel von Teilleistungen, Zielunterordnung oder Teamwork erforderlich. Das Konzeptlernen wird hier in dem Maße wirksam, als Vorstellungen und Begriffe für Systemzusammenhänge gebildet werden, das heißt Kenntnisse über die wechselseitigen Abhängigkeiten von Teilbereichen, über Prozessabläufe zwischen verschiedenen Bereichen, hierarchische Ordnungsgefüge und Zielunterordnungen erworben werden. Die Aneignung einzelner Wissensschritte kann sehr schnell erreicht werden. Fertigkeiten zu erlernen, die Geschicklichkeit zu verbessern oder sich an neue Umgebungen anzupassen, also Erfahrungen zu erwerben, ist dagegen in der Regel zeitaufwendiger: Man muss längere Zeit üben.Auch wenn das Lernverhalten von Person zu Person äußerst unterschiedlich sein kann, schöpfen wohl die meisten Menschen ihre Möglichkeiten nicht aus. Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James schrieb vor einigen Jahrzehnten: »Wir machen alle nur zur Hälfte von unseren physischen und psychischen Kräften Gebrauch.«Verbesserungen beim LernenDurch ein Lerntraining erlernt man, wie man besser lernt, das heißt die besten Lernvoraussetzungen bewusst zu planen und zu verwirklichen. Dafür hat die Lernpsychologie verschiedene Grundregeln aufgestellt: Ordnung ist das oberste Lerngesetz. Selbst bei der kleinsten Lernaufgabe ist die Gestaltung der Lernumgebung, die Gliederung der Lernzeit und die Aufteilung des Stoffes in Lerneinheiten ganz entscheidend. Die Umgebung sollte daher möglichst störungsfrei und, zum Beispiel durch griffbereite Wörterbücher oder Lexika, lernförderlich sein. Die Lerngliederung bezieht sich auf feste, aber flexibel gehandhabte Lernzeiten, je nach Aufgabe den Wechsel von Gruppen- und Einzellernen sowie Lernteams mit verteilten Rollen. Lernen sollte wie beim guten Essen in kleinen Häppchen erfolgen, die eine sinnvolle Einheit bilden. Beispielsweise kann man in einer Gruppe alles über Australien lernen, indem man mit verteilten Aufgaben über Landschaft, Verkehr und Bevölkerung spricht. Wichtig ist auch, die Lernzeiten durch Ruhepausen zu unterbrechen und diese richtig zu gestalten.Lernhilfen sind äußerliche Handreichungen zur Lernunterstützung. Obgleich sie sehr zahlreich sind, werden sie oft unterschätzt, nicht selten verachtet. Goethe hat mehrfach über seine schriftstellerischen Tricks berichtet: seine Notizzettel, die er an die Wand heftete, oder die Manuskriptbindung von Faust II als Buch, obgleich der vorletzte Akt noch aus leeren Blättern bestand (»Es liegt in solchen Dingen mehr als man denkt, und man muss dem Geistigen mit allerlei Künsten zu Hilfe kommen«, Goethe in den Gesprächen mit Eckermann). In den früheren Reformschulen (unter anderem die Jena-Plan-Schule von Peter Petersen) hat man solchen Lernhilfen große Bedeutung beigemessen: Zum Beispiel wurde der Lernstoff mit verteilten Rollen als Inszenierung spannender Geschichten vermittelt.Im Computerzeitalter werden allerdings neue Lernhilfen nötig. Da der zu lernende Stoff zunächst noch fremd ist, muss man ihn sich »zu eigen« machen. Arthur Schopenhauer sagte von der bloß übernommenen Wahrheit, sie sei wie der falsche Zahn ein künstlicher Teil unseres Körpers. Wer heute Internetbenutzer beobachtet, die wahllos Informationen sammeln, vermag den Unterschied zwischen der Verkümmerung aktiven Wissenserwerbs durch Aufnahme beliebigen Materials und der Anregung durch erworbenes Wissen leicht zu erkennen. Nur die Wahrheit, die wir uns selbst angeeignet haben, gehört uns wirklich. Wie man sich etwas am besten selbst zu Eigen macht, muss jeder für sich entscheiden. So kann man beispielsweise einen Text in eigenen Worten beschreiben, eine Skizze anfertigen oder ein zusätzliches Buch lesen. Jede neue Tür zum Wissen kann wie bei einem Haus seine Zugänglichkeit erweitern und so mit dem Lerngut den eigenen Horizont erweitern.Ein Lernstoff lässt sich besser verstehen, wenn er verdichtet wird. Das zu Lernende wird dafür vereinfacht und erst anschließend differenziert. Johann Gottfried Herder sagte: »Um sich begreiflich zu machen, muss man zum Auge reden«, jedoch nicht nur zum Sinnesorgan Auge, sondern auch zum inneren Auge der vorgestellten Bilder. Eine weitere wichtige Möglichkeit, Lerninhalte besser zu behalten, ist die Sinnanreicherung des Stoffes. Es ist nur ein kleiner Unterschied, sinnlose Silben zu lernen (zum Beispiel für Gedächtnisversuche) oder sich einen sinnvollen Text einzuprägen. Fast alle sinnlosen Silben (etwa neue Markennamen) werden jedoch bald mit irgendeiner selbst entwickelten Bedeutung untermauert. Wer eine Zeit lang Wolken betrachtet, kann nicht umhin, Gesichter, Tiere oder andere Gestalten in sie hineinzudeuten. Selbst in abstrakte Lernstoffe kann man eine persönliche Sinnhaftigkeit einbringen. Mathematische Bildzeichen auf einer Wanderkarte kann man beispielsweise durch erlebte Orientierungszeichen (eine Bergskizze) anreichern und so die abstrakte Landkarte Stück für Stück lebendig werden lassen. Wer so ein persönliches Verhältnis zu Lernstoffen herstellt, kann sich das Gelernte besser und dauerhafter einprägen.Für ein effektives Lernen hat auch die eigene Einstellung hierzu Bedeutung. Viele Menschen fühlen sich dem Lernstoff nicht gewachsen und trauen sich nicht zu, ihn zu beherrschen. Der Lernstoff und die Vorstellung, lernen zu müssen, können Angst machen, die jeden Lernfortschritt blockiert. Außerdem kann auch die Angst vor einer kommenden Prüfungssituation lernhemmend wirken. Die klinische Psychotherapie führt häufig Behandlungen zum Angstabbau durch, die sich zum Großteil auch für den Angstabbau gegenüber Lern- und Prüfungssituationen eignen. Die Verhaltenstherapie kennt viele verschiedene Behandlungsformen. So teilt man sich beim Chaining den Lernprozess in Verhaltensketten auf und beginnt bei leicht beherrschbaren Aufgaben, um darauf aufzubauen. Eine wichtige Form ist auch das Coping, durch das kritische Lebenssituationen mithilfe einer veränderten Einstellung bewältigt werden sollen. Bei all diesen Methoden ist gegebenenfalls die Hilfe eines Therapeuten nützlich.Die Kontrolle des zu lernenden Stoffes ist ein wichtiger Teil effektiven Lernens. Wer Vokabeln durch einen Unbeteiligten abfragen lässt, nutzt die Vorteile der Lernkontrolle: Allmählich werden die Fehler weniger, das Gelernte prägt sich ein. Zusätzlich kann man die Selbstkontrolle erweitern und das geleistete Pensum nach verschiedenen Gesichtspunkten steigern. So kann man die Vokabeln in Sätze einbauen oder schneller abfragen lassen. Um einen Stoff zu lernen, ist es oft sehr hilfreich, ihn zu lehren. Beim Lehren wendet man zumeist wie selbstverständlich die vorher genannten Regeln an, besonders die, den Stoff in einer leicht erlernbaren Form darzubieten. In Lerngruppen lässt sich das nachahmen, um sich und den anderen so die besten Lernvoraussetzungen zu schaffen.Die Psychologie der Lernstörungen konzentriert sich auf zwei Hauptfragen: Welche Arten von Lernstörungen gibt es? Wie kann man sie beseitigen?Lernstörungen äußern sich in der Schule »global« oder »partiell«. Erstere werden häufig unter der Bezeichnung »Schulschwäche« (vom Schulversagen bis zur Schulphobie) zusammengefasst. Die Beschreibungen der zweiten Gruppe sind bei den verschiedenen Autoren immer noch sehr unterschiedlich. Die mitteleuropäische Forschung hebt zehn Teilleistungsschwächen hervor: Kenntnislücken, Fertigkeitshemmnisse, Merkstörungen, Konzentrationsschwächen, Mentalstörungen, Entwicklungsinkongruenzen, Interesseneinengungen, Motivationsmängel, Verhaltenskrisen und körperliche Gebrechen.Jede dieser Störungen ist wiederum in sich differenziert. Beispielsweise unterscheidet man bei der Konzentrationsschwäche vier Äußerungsformen. Die Konzentration eines Menschen kann schwächer werden, weil er zu schnell ermüdet (Ausdauerstörung), sich zu leicht ablenken lässt (Zerstreuungsverluste), durch ein schwerwiegendes, ihn bedrückendes Problem nicht bei der Sache ist (Ausblendungseffekte) oder durch den Lernstoff erheblich über- oder unterfordert ist. Besonders folgenreich ist Letzteres in Prüfungen: Ein Prüfling hat sich für ein Examen lang und intensiv vorbereitet und erwartet zu Beginn eine besonders schwierige Frage; doch der Prüfer möchte ihm mit einem »leichten« Einstieg entgegenkommen. Der Prüfling antwortet eventuell nicht, weil er krampfhaft überlegt, was hinter der »zu« leichten Frage stecken könnte, und durch seine Verwirrung verliert die Konzentration.Die hohe Differenzierung der Lernstörungen kann dazu führen, dass sich die Störmerkmale in den einzelnen Gruppen überschneiden. Besonders deutlich ist das im Spezialfall der Legasthenie, der Lese- und Rechtschreibschwäche. Sie tritt bei durchschnittlich begabten Kindern auf, wobei der Rechtschreibschwäche meist eine Leseschwäche vorausgeht. Die wichtigsten legasthenischen Fehler sind Mängel in der rechtsgerichteten Verarbeitung (Sinistation oder unabsichtlich falsche Linksrichtung, zum Beispiel in der Buchstabenfolge) und eine optische und akustische zeitliche Fehlsteuerung. Dadurch treten Fehler auf wie Buchstabenumstellungen (fua statt auf), Auslassungen (ht statt hat), Hinzufügungen (draei statt drei), Buchstabenumkehrungen (bie statt die), Wortentstellungen (katen statt gehen), Zusammenschreibungen (walt statt wie alt), Worttrennungen und -veränderungen (er leischen statt erleichtern) und ratendes Lesen (Einschub von erinnerten Texten). Diese Schwächen bleiben nicht konstant.Im Lauf der Lesegewöhnung können einzelne Fehler verschwinden, während andere bleiben. Eine Unprägnanz kann als Differenzierungsschwäche bestehen bleiben, die sich etwa als mangelhaftes Wortbildgedächtnis beim Vorlesen von Texten zeigt. Eine andere (nachrangige) Spätfolge kann die unsichere Wahrnehmung von Schriftbildern sein, die sich beispielsweise bei ungewohnten Buchstaben oder Schrifttypen, zu enger Zeilenführung, beim Erlernen eines fremden Alphabets und ähnlichen ungewöhnlichen Lesesituationen bemerkbar macht. Fördermaßnahmen gegen Lernstörungen, insbesonders gegen die Legasthenie, umfassen eine verbesserte Diagnostik der Störmerkmale, ein Training mit Fehlerkorrektur, Funktionstraining nach speziellen Aufgaben, Training der Konzentrationsfähigkeit und eine verhaltenstherapeutische Betreuung.Prof. Dr. Hellmuth BeneschWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Denken: Wahrnehmen, Erinnern, Wollen und HandelnBower, Gordon H. / Hilgard, Ernest R.: Theorien des Lernens. 2 Bände. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart 3-51983-84.Dahmer, Hella / Dahmer, Jürgen: Effektives Lernen. Stuttgart u. a. 41998.
Universal-Lexikon. 2012.